Wissenswertes

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Was können wir eigentlich in einer pädagogisch-therapeutischen Einrichtung, was die Eltern daheim nicht können?

Allgemeines

  • Wir können uns zunächst relativ frei, unbelastet und unbefangen von den zu Hause oft seit Jahren andauernden Spannungen, gegenseitigen Verletzungen, eingeschliffenen Fehlverhaltensweisen und dem Labyrinth von Problemverflechtungen auf das Kind einstellen.
  • Wir versuchen an einem neuen Ort unter anderen Rahmenbedingungen und mit anderen Erziehungspersonen einen Neuanfang zu finden. Kinder und Jugendliche lassen sich den eigenen Angehörigen oder den Eltern gegenüber ja meist früher "hängen", fühlen sich früher "unfähig" oder haben oft gelernt, gerade daheim die umfassendste Trickkiste einzusetzen. Anderen Erwachsenen gegenüber reißen sie sich meist mehr zusammen, bevor sie aufgeben.
  • Wir sind hier nicht so dicht beieinander wie in der Familie. Spannungen erfüllen oft das gesamte Umfeld bzw. die Lebenswelt (Stigmatisierung) und können fast zwangsläufig jeden, also nicht nur die Familienmitglieder erfassen.
  • Wir sind hier immer mehrere Erziehungspersonen und können uns deshalb gegenseitig entlasten und stützen. Dadurch fällt es leichter, eine wertschätzende Grundhaltung zu bewahren, aber auch eine in bestimmten Situationen angebrachte Haltung konsequenter Festigkeit durchzustehen.

Berufliche Arbeitsweisen und Methoden

  • Wir verfügen über eine Reihe besonderer beruflicher Fähigkeiten und Erfahrungen, die wir einsetzen können, und über eine Reihe von spezifischen Arbeitsweisen und anderen Hilfsmitteln. Wissenschaftlich überprüfte und in der Praxis bewährte Methoden können helfen, verfestigte Frustrationserfahrungen abzuschwächen oder durch neue positive Erfahrungen auszugleichen.
  • Wir können planvoll neue Lernsituationen herstellen und pädagogische Projekte durchführen, die Korrektur-, Ausgleichs- und Ergänzungsfunktionen haben.
  • Entwicklungsfördernde Aktivitäten können so gebündelt und konzentriert eingesetzt werden.
  • Wir können ein so genanntes "therapeutisches Milieu" schaffen und nutzen, indem wir uns, manchmal auch nur für einen bestimmten Zeitraum, von einem Teil der Alltagszwänge (Regeln, Pflichten, schulische u. a. Anforderungen) freimachen oder andere Gewichtungen vornehmen.

Alles in allem

Wir sind also keine besseren Eltern, sondern wir nutzen eine Reihe anderer Möglichkeiten, um mit einigem noch einmal neu zu beginnen, bei anderem neue Gewichtungen vorzunehmen oder bisher unentdeckt gebliebene bzw. verschüttete Fähigkeiten aktivieren. Dies tun wir nicht, indem wir die Familie ersetzen, sondern indem wir sie ergänzen mit dem, was sich uns hier an besonderen Möglichkeiten bietet.

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Wo liegen die Ursachen von erzieherischen Problemen und psychischen Störungsbildern?

Die Ursachen sind zumeist vielfältig. Verhalten ist ein überaus komplexes Phänomen und wird in seiner Ausprägung von vielen verschiedenen Faktoren bestimmt. Es gibt genetische Einflüsse, die wichtig, aber nie allein bestimmend sind. Immer kommt es zum Wechselspiel mit Umwelteinflüssen, das allerdings je nach Situation variiert.

Frühkindliche Erfahrungen und Lebensgeschichte, die familiäre Situation, der Erziehungsstil der Eltern, besonders belastende Ereignisse oder angeborene Leistungsschwächen gehören zu den möglichen Einflussfaktoren, von denen gewöhnlich mehrere zusammenkommen. Erzieherische Probleme und psychische Störungen können sich auf einzelne Bereiche beschränken; meist ist der junge Mensch aber in mehreren Bereichen betroffen.

Landläufige Erklärungsversuche, die oft darauf hinauslaufen, das Kind oder der Jugendliche habe von seinen Eltern "zu wenig Zuwendung und Fürsorge erhalten oder die Eltern hätten "alles falsch gemacht", sind deshalb Vereinfachungen, die der Realität nicht gerecht werden.

Fast alle Eltern wünschen ihrem Kind das Beste. Aber nicht alles, was von den Eltern "gut gemeint" ist, muss für das Kind auch tatsächlich gut sein. Ein Übermaß an Wunscherfüllung, Verwöhnung, Beschützen und Nähe oder ein Vermeiden jeder Belastung und Enttäuschung kann für das Kind genauso problematisch werden wie z. B. offene Ablehnung, übermäßige Strenge oder Gleichgültigkeit.

Kinder, die durch eine allzu intensive Bindung an einen oder beide Elternteile an der Entwicklung von Verantwortung für sich selbst und andere und an der allmählichen Ablösung und Verselbstständigung gehindert werden, vermeiden oft beharrlich und in schwer durchschaubarer Weise wichtige, in dieser Lebensphase entwicklungsnotwendige eigene Anstrengungen. Sie laufen Gefahr, nicht lebenstüchtig zu werden.

Wenn mehrere der beschriebenen Probleme über einen längeren Zeitraum anhalten oder sich trotz beispielsweise ambulanter Hilfen zu einer erzieherischen Notlage verdichten und verfestigen und sich eine Gefährdung der Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen abzeichnet, kann auch die Bewältigung des Alltags zuhause und in der Schule für alle Beteiligten zu einer fast unerträglichen und zermürbenden Belastung werden. Hier können Hilfemöglichkeiten, wie sie Haus Fichtenhalde anbietet, erforderlich werden.

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Sind die Eltern wirklich an allem schuld?

Adam, A. & Peters, M. (2003).
Störungen der Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Ein integrativer Ansatz für die psychotherapeutische und sozialpädagogische Praxis.
Stuttgart: Kohlhammer. S. 217 - 218.


Persönlichkeitsentwicklungsstörungen erregen viel Aufsehen und die Symptomatik der betroffenen Kinder/Jugendlichen bleibt natürlich Verwandten, Bekannten, Nachbarn oder auch den Eltern der Mitschüler nicht verborgen, sondern gibt zu allerhand Vermutungen und Theoriebildungen Anlass.

Laienhafte Erklärungsversuche aus dem Umfeld, die oft darauf hinauslaufen, das Kind habe wahrscheinlich von seinen Eltern nicht genügend Zuwendung erhalten oder die Eltern hätten wahrscheinlich "alles falsch gemacht", sind jedoch offensichtlich immer noch fast unvermeidlich, obwohl die Ursachen, wie an anderer Stelle (Kap. 6) geschildert, vielfältig und komplex sind. Es kann den Eltern auch passieren, dass ihnen die Suche nach einer stationären Hilfe als Versuch ausgelegt wird, ihr Kind "loshaben" zu wollen. Das sind natürlich Vereinfachungen oder Fehleinschätzungen, die der Realität meistens nicht gerecht werden. Es geht deshalb auch nicht an, die Eltern pauschal als die "Schuldigen" oder gar "die einzig Therapiebedürftigen" zu betrachten.

Manche Erziehungsfehler sind vermeidbar, andere fast unvermeidlich. Für viele ursächliche Anteile, wie erlittene Schicksalsschläge und andere belastende Lebensereignisse, genetische Dispositionen und neurobiologische Faktoren und auch gesellschaftliche Fehlentwicklungen, können Eltern nicht oder nur bedingt verantwortlich gemacht werden.

Zeigen sich bei einem Kind Merkmale einer Persönlichkeitsentwicklungsstörung, so können Eltern schon früh fast zwangsläufig in große erzieherische Schwierigkeiten geraten, also auch, wenn sie versuchen, alles recht zu machen. Hier handelt es sich um Kinder/Jugendliche, die sich aufgrund ihrer sich oft frühzeitig manifestierenden psychischen Störungen nur sehr schwer erziehen lassen bzw. den Erziehenden diese Arbeit oft unendlich schwer machen. Selbst pädagogisch kompetente Eltern erzielen mit ihren Interventionen oft nicht die gewünschte Wirkung.

In den Familien haben sich zudem über Jahre dysfunktionale Interaktions- und Erziehungsmuster und Problemverhaltensweisen verfestigt. Ab einem individuell verschiedenen Zeitpunkt sind dann die fortwährenden Konflikte und Spannungen nicht mehr erträglich. Die Nerven liegen blank und die Kräfte drohen auszugehen. Betroffene Eltern leiden häufig unter schweren Versagens- und Schuldgefühlen, auch weil sie solche entlastenden Ansichten viel zu selten zu hören bekommen. Viele sind deswegen und auch durch die Verunsicherungstaktiken ihrer Kinder enorm angreifbar und manchmal erpressbar geworden.

Trotzdem ist es natürlich richtig, dass die Eltern, das von ihnen gestaltete familiäre Umfeld und ihr Erziehungsstil sehr wichtige Faktoren in der Entwicklung jedes Kindes sind und daher bei der Entstehung von Problemen nicht unberücksichtigt bleiben können. Aber sogar wenn die Eltern eigenes Problemverhalten zeigen oder Unterlassungen selbst zu verantworten haben und man meint, sie deshalb verurteilen zu müssen, sollte man berücksichtigten, dass sie durch die erzieherischen Belastungen, denen sie über Jahre standzuhalten hatten, häufig - um mit dem Volksmund zu sprechen - "genug gestraft" und gedemütigt sind.

Bei den Eltern von Kindern/Jugendlichen mit komplexen Problemkonstellationen müssen Fachleute diese Aspekte unbedingt berücksichtigen. Es ist in Bezug auf die Eltern (auch Pflege- und Adoptiveltern seien hier eingeschlossen) nicht nur zu fragen: "Was mach(t)en die Eltern falsch?", sondern auch: "Warum wirkt(e) die elterliche Erziehung (oder oftmals ja auch die der Einrichtung) nicht so, wie es wünschenswert und erforderlich gewesen wäre?"

Dies liefert meist die wertvolleren Erkenntnisse und macht es leichter, Eltern als Kooperationspartner zu gewinnen und zu halten. "Erste Hilfe" für sie heißt dann vor allem: Verständnis zeigen, das Erlebte verständlich erklären, Entlastung schaffen, Stützung geben, Kräfte und Hoffnung wieder aufbauen helfen.

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Einige Ziele und Schritte bei der Arbeit mit Eltern

  • Entlastung der häuslichen Erziehungssituation, damit neue Kräfte gesammelt, eine neue Problemsicht gefunden und neue Chancen genutzt werden können
  • Vertrauensbildung auf mehreren Ebenen durch wertschätzende und authentische Haltung, ernst nehmen und ehrliche fachliche Bewertung der erzieherischen Probleme
  • Finden der individuellen Zugangsebene und z.B. der sprachlichen Verständigungsebene, Rücksichtnahme auf seelische Verletzungen, Empfindlichkeiten und Ängste
  • Unterstützung bei der Überwindung von Versagens- und Schuldgefühlen, von Ratlosigkeit, Resignation und Angst
  • Hinführung zu neuen differenzierteren Wahrnehmungen, neuen Sichtweisen und neuen Einsichten in Bezug auf das Kind und sich selbst, die eigene Rolle und die Rollenverteilung in der Familie, Besonderheiten der familiären Problemlage
  • Kennenlernen/Überprüfung der Entwicklungsaufgaben des Kindes, die noch nicht erledigt wurden bzw. noch zu erledigen sind. Hindernisse, die dem entgegenstehen (z.B. Abwehrmechanismen)Erkennen der Chancen, die ergriffen und Ressourcen, die zu Bewältigungsfähigkeiten ausgebaut werden können
  • Konzept der Risiko- und Schutzfaktoren kennen lernen und die wichtigsten Schutzfaktoren individuell für Kind und Eltern einschätzen
  • Ermutigung mittels neu gewonnener Wahrnehmungs- und Sichtweisen, nach Bewusstwerden eigener Stärken und gewonnener innerer Sicherheit z.B. eine eigenständigere Rolle zu übernehmen, Beziehungen zu klären und sich aus Abhängigkeiten zu lösen
  • Motivierung zum Erwerb neuer pädagogischer Fähigkeiten und Einübung von besonders wichtigen pädagogischen Handlungsstrategien (Pädagogische Kompetenzerweiterung)
  • Einbeziehung von anderen Angehörigen (Geschwistern, Großeltern, anderer Verwandten oder Bekannten oder einer externen Vertrauensperson zur zwischenzeitlichen Lastenverteilung
  • Anstöße zur Ressourcennutzung im Umfeld: Anschlussmöglichkeiten an Interessengruppe oder Verein, Übergabegespräche mit Schule am Heimatort bzw. deren Lehrkräften mit Informationen zu den besonderen Fähigkeiten und weiteren nutzbaren Begabungen wie auch den verbliebenen Schwächen. Bewährte Unterstützungsmethoden
  • Abwägung von Unterstützungsmöglichkeiten in kritischen Situationen vor Ort
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Zusammenarbeit zwischen den Bezugspersonen in der Einrichtung und den Eltern bzw. der Familie

Wenn Heim und Eltern sich mit der Aufnahme zu einer gemeinsamen erzieherischen Verantwortung für das Kind entschließen, sind ständiger Kontakt miteinander und die Bereitschaft von beiden Seiten zu einer regelmäßigen Zusammenarbeit unerlässlich.

Für die Familie sind die Beurlaubungen des Kindes an jedem zweiten Wochenende und während des einen Teils der Schulferien sichtbarer Ausdruck der auch während des Aufenthalts bestehenbleibenden Verbindung.

In der Zusammenarbeit mit den Eltern bzw. der Familie bilden regelmäßige Gespräche einen Schwerpunkt. Dabei stehen anfangs noch die Klärung offener Fragen und auftretender Probleme und die Entlastung von Schuld- und Versagensgefühlen der Eltern im Vordergrund. Die Gespräche wollen jedoch mehr und mehr auch zur erzieherischen Neuorientierung und zur Erweiterung der erzieherischen Kompetenzen ermutigen und anleiten.

Ein Elternseminar zu speziellen pädagogischen Themen, Elternrundbriefe, Eltern- und Familientage in der Einrichtung und Hausbesuche sollen dazu beitragen, Erfahrungen und Erkenntnisse auszutauschen, sich mit neuen pädagogischen Betrachtungs- und Verhaltensweisen vertraut zu machen und eine gemeinsame pädagogische Linie zu entwickeln.

Kleine Gruppen von Müttern oder z.B. von getrennt lebenden Vätern, verhelfen zu gemeinsamen Erfahrungen und Erkenntnissen von Personen, die gleiche Grundprobleme zu bewältigen haben. Sie geben Anstoß und Gelegenheit zur intensiven Beschäftigung auch mit den persönlichen Problemen.

Angestrebt wird grundsätzlich die Rückkehr des Kindes in seine Familie; wo dies nicht möglich ist, die Aufnahme in eine Ersatzfamilie oder z.B. in eine Wohngruppe bzw. - bei entsprechendem Alter - die Hinführung zu Eigenverantwortlichkeit und selbständiger Lebensführung.